Mit einem Grundsatzurteil vom 12.06.2019 (10 S 1990/18) hat der VGH Baden-Württemberg entschieden, dass eine Einzelhandelskette nicht nur Alttextilien und Altschuhe zurücknehmen darf, die sie selbst hergestellt bzw. verkauft hat. Im Rahmen der sogenannten Produktverantwortung nach § 23 des Kreislaufwirtschaftsgesetzes (KrWG) kann sich die freiwillige Rücknahme auch auf gattungsgleiche Produkte anderer Hersteller oder Vertreiber erstrecken.

Klägerin in dem vom VGH Baden-Württemberg entschiedenen Verfahren war die zentrale Einkaufsgesellschaft einer Einzelhandelskette für Lebensmittel in Deutschland mit ca. 650 Einzelhandelsfilialen. Neben Lebensmitteln bietet die Unternehmensgruppe auch ein breites Sortiment an Textilien sowie Schuhen an. Die Einkaufsgesellschaft der Unternehmensgruppe plant, deutschlandweit ihre Filialen mit Rücknahmeboxen für Alttextilien und Altschuhe auszustatten, in die Kunden Alttextilien und Altschuhe einwerfen können. Die Klägerin will dabei auch solche Textilien und Schuhe zurücknehmen, die nicht von der Unternehmensgruppe selbst hergestellt oder vertrieben wurden. Sie will damit ihrer Produktverantwortung im Sinn des § 23 KrWG Rechnung tragen. Nach § 23 Abs. 2 Nr. 5 KrWG umfasst die Produktverantwortung unter anderem die Rücknahme der Erzeugnisse und der nach Gebrauch der Erzeugnisse verbleibenden Abfälle sowie deren nachfolgende umweltverträgliche Verwertung oder Beseitigung.

Gemäß § 26 Abs. 6 Satz 1 KrWG stellt die zuständige Behörde auf Antrag des Herstellers oder Vertreibers fest, dass eine angezeigte Rücknahme von Abfällen in Wahrnehmung der Produktverantwortung nach § 23 KrWG erfolgt, wenn durch die Rücknahme die Kreislaufwirtschaft gefördert wird und die umweltverträgliche Verwertung oder Beseitigung der Abfälle gewährleistet bleibt. Ein wirksamer Feststellungsbescheid hat zur Folge, dass die Erzeuger und Besitzer aus privaten Haushaltungen der Abfälle, die zurückgenommen werden, gem. § 17 Abs. 2 Nr. 2 KrWG nicht mehr verpflichtet sind, diese Abfälle dem öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger zu überlassen.

Die zuständige Behörde hat die von der Klägerin beantragte Feststellung gem. § 26 Abs. 6 Satz 1 KrWG mit der Begründung versagt, im Rahmen der Produktverantwortung sei die Rücknahme fremder Alttextilien und Altschuhe unzulässig. Das Gesetz erlaube nur die freiwillige Rücknahme eigener Produkte, nicht jedoch die freiwillige Rücknahme von Alttextilien und Altschuhen fremder Hersteller oder Vertreiber.

Schon das Verwaltungsgericht Stuttgart ist dieser Auffassung mit Urteil vom 28.06.2018 (14 K 2931/17) nicht gefolgt. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung hat das Verwaltungsgericht die Berufung zugelassen. Diese wurde nun vom VGH Baden-Württemberg zurückgewiesen. Der VGH Baden-Württemberg hat seinerseits die Revision zugelassen, weil grundsätzliche Fragen zu § 26 Abs. 6 Satz 1 KrWG klärungsbedürftig seien. Damit ist der Weg zu einer höchstrichterlichen Entscheidung durch das Bundesverwaltungsgericht eröffnet.

Der VGH Baden-Württemberg betont im Urteil vom 12.06.2019 die „kategoriale Differenz“ zwischen der freiwilligen Rücknahme von Abfällen in Wahrnehmung der Produktverantwortung und der gewerblichen Sammlung von Abfällen nach § 3 Abs. 18 KrWG. Die freiwillige Rücknahme von Abfällen im Rahmen der Produktverantwortung sei gegenüber der gewerblichen Sammlung ein aliud.

Daraus ergeben sich zwei wichtige Konsequenzen:

  • Anders als bei der gewerblichen Sammlung von Abfällen sind die Belange des öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgers bei der freiwilligen Rücknahme von Abfällen im Rahmen der Produktverantwortung nicht zu berücksichtigen. Die Funktionsfähigkeit des öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgers wird nur gegenüber gewerblichen Abfallsammlungen geschützt.
  • Die gesetzliche Unterscheidung zwischen der freiwilligen Rücknahme von Abfällen im Rahmen der Produktverantwortung und der gewerblichen Sammlung von Abfällen verlangt, dass im konkreten Fall ein als „freiwillige Rücknahme“ angezeigtes System tatsächlich auf die bloße „Rücknahme“ von Abfällen im Rahmen der Produktverantwortung ausgerichtet ist und nicht etwa unter diesem Deckmantel in Wahrheit eine gewerbliche Sammlung von Abfällen durchgeführt wird. In Abgrenzung zur gewerblichen Sammlung ist für die freiwillige Rücknahme von Abfällen nach dem Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 14.05.2019 im Einzelfall deshalb entscheidend, dass die freiwillige Rücknahme im Vergleich mit der Haupttätigkeit des Herstellers oder Vertreibers eine lediglich untergeordnete Tätigkeit darstellt. Für die konkrete Beurteilung sind qualitative und quantitative Kriterien maßgebend. Die Rücknahme von Abfällen muss sich als bloße Annextätigkeit zur wirtschaftlichen Haupttätigkeit des Herstellers oder Vertreibers darstellen. Im konkreten Fall waren diese Grenzen gewahrt. Die Klägerin erzielt pro Jahr eine Umsatzmenge von 36 Mio. Textilartikeln (ca. 11.000 t). Sie strebt jedoch mit der Rücknahme von gebrauchten Alttextilien und Altschuhen im Rahmen der Produktverantwortung nur eine Sammelmenge von 2.400 t pro Jahr an. Diese Menge stehe – so der VGH Baden-Württemberg – in keinem Missverhältnis zwischen der Vertriebstätigkeit einerseits und der beabsichtigten Rücknahmetätigkeit andererseits.
  • Eine Möglichkeit, die Balance zwischen der wirtschaftlichen Haupttätigkeit des Herstellers oder Vertreibers und der Annextätigkeit der Rücknahme von Abfällen zu wahren, eröffnet die Feststellung nach § 26 Abs. 6 KrWG allerdings nicht. „Macht“ das Rücknahmemodell „Schule“ und steigern sich die Rücknahmemengen, kann dies erhebliche Rückwirkungen auf den Entsorgungssektor, insbesondere auf die Sammelstrukturen der öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger haben. Diese „denkbaren Weiterungen“ hat der VGH Baden-Württemberg im Urteil vom 12.06.2019 durchaus gesehen. Nach seiner Auffassung kommt es darauf jedoch im Rahmen der Feststellung nach § 26 Abs. 6 KrWG nicht an.

Dr. Andrea Vetter

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