Nach Art. 6 Abs. 3 FFH-RL und § 34 Abs. 1 BNatSchG sind Projekte auf ihre FFH-Verträglichkeit zu überprüfen, und zwar „im Zusammenhang mit anderen Projekten oder Plänen“. In seinem viel beachteten und viel kritisierten Urteil vom 16.06.2016 (8 D 99/13.AK) zum Steinkohlekraftwerk Lünen hatte das OVG Münster entschieden, bei der Prüfung, ob das Steinkohlekraftwerk im Zusammenwirken mit anderen Projekten zu Beeinträchtigungen von Natura 2000-Gebieten führen kann, sei nach dem Prioritätsgrundsatz nur auf den Zeitpunkt der Einreichung eines prüffähigen Genehmigungsantrags abzustellen. Diejenigen Projekte, die später als das streitgegenständliche Projekt beantragt, aber vor dem streitgegenständlichen Projekt genehmigt wurden, sollen unberücksichtigt bleiben. Das OVG Münster hatte außerdem festgestellt, maßgebend für die Bestimmung des Einwirkungsbereichs der geplanten Anlage und damit des Untersuchungsraums der Verträglichkeitsprüfung sei ein Abschneidekriterium in Höhe von 0,5% der Grenzbelastung (Critical Loads) für den jeweils in Betracht kommenden Lebensraumtyp. Bei der Prüfung der Zusatzbelastung müssten außerdem alle Projekte seit Unterschutzstellung der Natura 2000-Gebiete im Dezember 2004 einbezogen werden.

Das Bundesverwaltungsgericht hat die Revision gegen das Urteil des OVG Münster zugelassen, weil es von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts abwich. Durch Urteil vom 15.05.2019 (7 C 27.17) hat das Bundesverwaltungsgericht das Urteil des OVG Münster aufgehoben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das OVG Münster zurückverwiesen. In allen drei Punkten hat das Bundesverwaltungsgericht die Rechtsauffassung des OVG Münster korrigiert:

Das Bundesverwaltungsgericht hält an seiner Rechtsprechung fest, dass bei Einbeziehung weiterer Vorhaben in die FFH-Verträglichkeitsprüfung grundsätzlich alle Projekte zu berücksichtigen sind, für die eine Genehmigung bereits erteilt worden ist. Die abweichende Auffassung des OVG Münster verstoße gegen die bei der Auslegung und Anwendung der nationalen Vorschriften zu berücksichtigenden unionsrechtlichen Vorgaben. Da das OVG Münster zu Stickstoffeinträgen durch einen in die Summationsbetrachtung einzubeziehenden Betrieb, der vor dem Kraftwerk Lünen genehmigt worden war, keine Feststellung getroffen hatte, wurde das Verfahren an das OVG Münster zurückverwiesen.

Das Bundesverwaltungsgericht stellt außerdem klar, das für eine Modifizierung des naturschutzfachlich allgemein anerkannten projektbezogenen Abschneidekriteriums von 0,3 kg/N/ha/a auch bei kumulativen Belastungen kein Anlass besteht. Das vom OVG Münster erstmals entwickelte sehr viel „strengere“ Abschneidekriterium in Höhe von 0,5% der Critical Loads hat das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich verworfen.

Außerdem stellt das Bundesverwaltungsgericht fest, dass entgegen der Auffassung des OVG Münster im Rahmen der Prüfung, ob ein Natura 2000-Gebiet einer schleichenden Verschlechterung durch Bagatelleinträge unterliegt, nicht stets die Notwendigkeit besteht, bis auf den Zeitpunkt der Unterschutzstellung im Dezember 2004 zurückzugehen.

Mit dieser Rückkehr zur bisherigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wurde Klarheit geschaffen. Das Urteil des OVG Münster und die ihm weitgehend folgende Verwaltungspraxis sind obsolet.

Derzeit liegt nur die Pressemitteilung des Bundesverwaltungsgerichts vom 15.05.2019 vor. Wir sind gespannt auf das vollständige Urteil und werden darüber berichten.

Prof. Dr. Klaus-Peter Dolde

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